Inserat

Inserat

Montag, 22. November 2004

Liebe Mutter,

Kinski hat mir am Abend telefoniert und mitgeteilt, dass Du heute ca. um 13.00 Uhr gestorben bist. Für mich war es ein schwerer Schlag. Du hattest heute am Morgen noch gesagt, Du wünschtest sterben zu können, denn die Schmerzen der Krebserkrankung seien schier unerträglich.

Ich dachte jeden Tag an Dich und Kinski – und betete
Aber ich war nicht imstande, Dich zu besuchen. [Anmerkung der Mythen-Post: Urs Beeler hat eine Abneigung gegen Spitäler.] Dich so enorm leiden zu sehen, hätte mir das Herz gebrochen. Und ich wollte Dich so in Erinnerung haben, wie ich Dich kannte – eine Zeitschrift lesend, eine interessante Sendung schauend, mit Kinski spielend, eine treffende Analyse abgebend.

Du warst über Dein 78. Altersjahr heraus geistig topfit
Ich kenne bis heute niemandem, der Dir diesbezüglich hätte das Wasser reichen können. Ganz im Gegensatz zu Deiner körperlichen Verfassung der vergangenen Jahre. Das extrem schwere Asthma und die vielen Operationen, die Du in Deinem Leben über Dich ergehen lassen musstest – ich glaube, es gibt nicht viele, die das in Deiner Situation durchgestanden hätten. Doch Dein Lebenswille und Dein positives Denken waren all die Jahre und Jahrzehnte ungebrochen. Bis der Krebs in diesem Jahr so massiv ausbrach – da sahst selbst Du in den vergangenen Wochen und alle anderen keine Hoffnung mehr. Du warst immer Realistin – im Gegensatz wohl zu Vatschli und mir, die wir gerne Ausflüge in die Phantasie machten…

Du hast soviel in Deinem Leben durchgemacht und soviel Gutes für andere Menschen getan, dass ich mir um Deine Seele keine Sorgen zu machen brauche
Du wirst jetzt wohl mit Vatschli von hoch oben auf das Geschehen hier herabblicken – und auf mich.

Ich mache mir schwere Vorwürfe über all die Sorgen und den Kummer, den ich Dir als „Unangepasster“ all die Jahre hindurch machte
Don Francesco Bachmann meinte sogar, evtl. könne Deine Krebserkrankung davon herrühren. Ich weiss es nicht. Auf der anderen Seite wusstest Du – so glaube ich – immer auch, dass ich mich in meinem Leben eben nicht anders verhalten konnte als ich es tat. Und dass ich in den vergangenen 20 Jahren mit meinen Eskapaden nie weh tun wollte.
Du erlebtest hautnah den Kollegi-Abschluss-Krimi im Jahre 1983 (beste Deutsch mündlich Prüfung und schlechteste…), meine ARMADA-Zeit, meine automobilen Exzesse, Zeiten des relativen Friedens und der Harmonie, als ich Schulunterricht erteilte. Dann 1988 der Tod von Vatschli, meine Verurteilung zu 30 Tagen Gefängnis unbedingt wegen Zivilschutz-Verweigerung.

Dir verdanke ich es, dass ich mich in den vergangenen Jahrzehnten so frei und unabhängig entwickeln konnte, wie es leider in diesem System nur wenige tun können
Vatschli wie Du hatten zwar oft eine andere Meinung, aber ihr liesst mich im Geist liberal machen. Dir verdanke ich es, dass ich 5 Bücher schreiben konnte. Meinen Geist konnte ich in den unzähligen (dialektischen!) Gespräche mit Dir in den Achtziger- und Neunzigerjahren schärfen.
Vergib‘ mir bitte alle Wutausbrüche, die ich (nicht wegen Dir), sondern früher wegen der KKS und „der Gesellschaft“ hatte. Als ich immer wieder wünschte, den Talkessel Schwyz zu bombardieren und „platt zu machen“, bis Unehrlichkeit und schlechte Gesinnung ausgerottet seien.

„Man kann die Menschen nicht zwingen“, pflegtest Du jeweils zu sagen
Du hast gelitten. Als Kessler auch einmal live in meinem Stil ausrief (es war in Brunnen), erfuhr ich, dass das für Aussenstehende verdammt unangenehm ist. Kinski und Du bedauerten darauf Frau Heidi Kessler…
Du bangtest um mich, als ich Tierschutz-Recherchen allein – auf eigenen Faust – machte und mit Fotos von Schwyzer Schweinefabriken nach Hause kam. (So verrückt ist nicht mal Kessler – er arbeitet im Team!) Du erlebtest den Staatsterror gegen mich, wenn man ehrlich und gerade versucht, Konsumentenschutz in der Schweiz zu betreiben. Dass man polizeilich vorgeladen wird, untersuchungsrichterlich befragt und später vom Schweizer Pseudo-Rechtsstaat wegen angeblich „unlauterem Wettbewerb“ zu Busse und Gefängnis verurteilt wird, nur weil man vor gesundheisschädigenden Isolationsmaterialien, allergieauslösenden Waschmitteln undsoweiter warnt.

Du rietest mir davon ab, weil Du haargenau wusstest, wie unser korruptes und in Wirklichkeit sehr unmenschliches System in der Praxis funktioniert
Und die „Normalmenschen“ nur an sich selber denken und an ihre „kleinen Interessen“ (> Geld!).
Was ich an Vatschli und Dir bis heute bewundere: obwohl Ihr das System kanntet, wurdet ihr nicht so wie die Systemträger. Ihr wart und bliebt ehrlich und gerade, verantwortungsbewusst, sozial, fair, gerecht und menschlich. Und genau nach diesem Prinzip lebte und lebt Kinski. In dieser Umgebung aufgewachsen nahm ich jahrelang an, auch andere Menschen müssten doch „irgendwie so sein“. Ein riesengrosser Irrtum, wie ich die Jahre später feststellte. Der Grossteil der heutigen Leute huldigt einer Götze, sie heisst: Geld!

Doch jetzt zu Schönerem! Rosly, die blitzgescheite Schülerin
Ich weiss noch, wie Deine Schulzeugnisse aussahen: praktisch alles 1en (damals auch in der Schweiz Bestnote!). Mit 12 Jahren verfügtest Du über eine perfekte Rechtschreibung – heutzutage selbst bei Hochschulabsolventen keine Selbstverständlichkeit. Du hättest mit Deiner hervorragenden Intelligenz leicht einen akademische Ausbildung absolvieren können. Doch weil damals kein Geld vorhanden war, hiess es bereits nach der Volksschule arbeiten. Ich weiss noch, wie Du mir von der Arbeit in der Schwyzerorgelfabrik Eichhorn erzähltest, wie Du im Winter bei eisiger Kälte mit dem Velo vom Kaltbach draussen nach Schwyz ins Hinterdorf fahren musstest. Eine lange Arbeitszeit bei kargem Lohn. Oder wie Du von Deiner Au-pair Zeit bei einer jung verheirateten Familie in Risch (Kanton ZG) erzähltest – und z.T. unschönen Erfahrungen. Von der Hochzeit mit Vatschli im Jahre 1945 und Deine glücklichste Zeit in Unterseewen als frisch vermähltes Paar.

Apropos Vatschli: mit 19 Jahren hatte dieser gegenüber Deinem Vater („Schnauzgrossvater“) gesagt, dass er Dich eines Tages heiraten werde. Du warst damals – 1938 – gerade mal 12 Jahre alt! Sechs Jahre später, als der II. Weltkrieg vorbei war, heiratetest Du (damals 19jährig) tatsächlich den 26jährigen Peter Beeler, meinen Vater. Er bekam mit Dir nicht nur eine sehr intelligente und treue, sondern auch hübsche Frau. Ich kann mich noch an Norbert Pfyl erinnern, der mir um 1990 herum sagte: „Du hast eine sehr schöne Mutter“.

Du weisst, was für ein toller und liebenswürdiger Mensch Vatschli war
Mit fast wohl nur einer einzigen Schwäche: Eifersucht. Du hättest in den Jahren so gerne am Fasnachtstreiben im Casino Schwyz teilgenommen, aber Vatschli liess Dich nicht aus der Wohnung, um die paar Schritte hinunter zu gehen. Er betrachtete Dich als „seinen Besitz“ – nur ihm solltest Du gehören. Nicht auszudenken, wenn Du je (Du warst stets treu!) einen Liebhaber gehabt hättest. Vatschli wäre völlig ausgerastet!
Es ist unglaublich, wieviel Du, Vatschli und Kinski in all den Jahrzehnten gearbeitet habt. Bis heute habe ich keine pflichtbewusstere Frau kennengelernt (ausser Kinski, Deine Schwester). Stets korrekt, Rechnungen umgehend bezahlt, für Vater genau Rapport geführt undsoweiter. Und trotzdem nie kalt-bürokratisch (wie ich später „Geschäftsfrauen“ allzu oft erlebte), sondern stets menschlich und vor allem: vernünftig!

Gesunder Menschenverstand, Realitätssinn und Tatendrang waren typische Eigenschaften von Dir
Du hast Wohnungen so exakt gemalt, wie es langjährige Profis selten zustande bringen. Bei aufwendigsten Gobelins – wo anderen Handarbeiterinnen massenhaft scheiterten – wurde „Frau Beeler“ konsultiert. Als ich noch zur Schule ging, warst Du meine kompetente Auskunftsstelle, später jahrelang meine Lektorin.
Als ich zur Primarschulzeit in den Siebzigerjahren Gedichte auswendig lernen musste, fiel mir das äusserst schwer. Ja, es war geradezu dramatisch. Du aber hattest es locker im Griff, übtest mit mir, währenddem Du das Abendessen kochtest.

Apropos Essen: Du warst eine absolut hervorragende Köchin!
Mit Kinski zusammen das Dream-Team. Nicht nur im Kochen, sondern im Haushalt ganz allgemein. So trifft mich heute der Vorwurf, ich sei „verwöhnt“ worden. Ich sage: Es wäre gut, alle Kinder, ja alle Menschen würden geliebt und verwöhnt werden – die Welt sähe tausendmal schöner aus!
Ich denke daran, wie Du Dich als Mutter für mich in der dritten Klasse eingesetzt hast, als ich ein grosses emotionales Problem mit der Schule hatte. Du sprachst mit (der guten) Frau Heimler – mir ging der Knopf auf und ich wurde in der Folge (nach sehr guten Noten in der ersten Klasse und einer mühsamen 2. Klasse bei der Mitschülern Tatzen austeilenden alten Frau Annen) zu einem Top-Drittklässler mit Jahresdurchschnittsnoten von 5,8 und 6,0. Und ähnlich erfolgreich ging es dann in die vierte, fünfte (legendärer Lehrer Ernst Trütsch!) und sechste (Paul Schmidig).

Du hast zusammen mit Kinski stets für Geborgenheit und eine heimelige und wohnliche Atmosphäre im Haus gesorgt
Ich denke an all die schönen Weihnachten und Geburtstage in der Alten Brauerei mit Wehmut zurück!
Deine viel jüngere Schwester – meine Gotte – Kinski (Grittli) hat mir meine Jugend zur Vollkommenheit gemacht. Ich glaube, dass man kaum eine schönere Jugend haben kann als ich sie gehabt habe. Rührt es daher, dass ich mit der „verschissenen heutigen Gesellschaft“ so unzufrieden bin?
Ich denke an die Zeit, als Du mit Vatschli, Kinski und Tante Berti (Vaters Schwester) auf der schönen grossen Terrasse der Alten Brauerei gejasst habt. Oder mit Tante Berti und Onkel Domini in die Ferien ins Bündnerland gereist seid. Die Besuche von Tante Hedi aus England, Onkel Robert und Tante Tini aus Neuburg a. d. Donau (Deutschland) und Tante Hildegard und Onkel Richard aus Rheinfelden (ebenfalls Deutschland). Oder mit Götti und Tante Dorli in die Ferien fuhrt nach Österreich.
Ich erinnere mich an die herrlichen Ausflüge zusammen mit Vatschli und Dir ins Bündnerland, die vielen herrlichen Passfahrten mit dem hübschen und freundlich dreinschauenden Renault 6.

Du warst für mich und mein Wohl immer besorgt – selbst als ich schon jahrelang erwachsen war
Regelmässig stelltest Du Dich als schonenden „Puffer“ zwischen mich und „die Gesellschaft“, die ich meist abgrundtief verachte(te). Jahrelang erlebtest Du meinen Weltschmerz mit, aber auch meine Wutausbrüche auf Behörden und Verwaltung (z.B. wegen der damaligen Untätigkeit im Umweltschutz), meinen abgrundtiefen Zorn auf alles Ungerechte (Tierquäler, falsche Gerichtsurteile usw.) Selbst als Du schwerst asthmakrank und während 24 Stunden am Sauerstoffgerät warst, warst Du gedanklich voll bei mir und wolltest mir helfen. „Der Geist will schon noch, aber der Körper will einfach nicht mehr“, hörte ich Dich sagen.

Und heute? Dein Tod schmerzt mich abgrundtief. Ich wünschte, Du könntest bei guter Gesundheit heute noch mit Kinski zusammen wohnen
Ihr hättet es schön, könntet in die Ferien fahren undsoweiter. Ich wünschte mir in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder, ich könnte Dir meine Jahre schenken und mich würde stattdessen der Tod ereilen. Denn die meisten Bemühungen, die ich gemacht habe, haben nichts Positives gefruchtet. Um die positiven Ziele durchsetzen zu können, die ich möchte, müsste ich Millionen zur Verfügung haben. Und selbst dann wäre der Ausgang ungewiss. Ich mache mir den Vorwurf, Dir und Kinski in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren viel zu wenig Zeit geschenkt zu haben und zu egoistisch (im guten Glauben!) „meine“ Ziele verfolgt zu haben. Und was mich unglaublich schmerzt, Euer Lebenswerk – die Alte Brauerei – „den Vögeln gerichtet“ zu haben. Wohl nicht alle Schuld liegt bei mir – aber ich habe Schuld auf mich geladen! Die Alte Brauerei ist wie ein schöner Rembrandt.

Walter Fässler versteht davon nichts. Und er weigert sich bis heute, dass man den Fehler rückgängig macht. Was tun?
Ich glaubte die vergangenen Jahre das absolut Richtige zu machen (und irgendwie war es das auch). Gleichzeitig vergass ich den Blick auf anderes Wichtiges. Das mache ich mir zum Vorwurf. Mit dem heutigen Wissen und der Erfahrung würde ich mich auch dem „anderen Wichtigen“ widmen.

Liebe Mutter, ich danke Dir für alles, was Du für mich und unsere ganze Familie in Deinem Leben getan hast
Bitte verzeihe mir meine Fehler und Unzulänglichkeiten. Sowohl Du wie Vatschli und Kinski – Ihr gabt immer eine „zweite Chance“. Weil Eure Mentalität stimmt.
Du hast mir gegenüber – meinem Wissen und Denken – Sympathien gehabt. Gerne denke ich an mein feines Geburtstagsessen im Gasthaus „Post“ in Muotathal am 7. Juni 2001 zurück, zu dem Du und Kinski mich eingeladen hattet. Als weise Frau und Mutter hattest und hast Du mein Wesen und Denken haargenau erfasst: Die riesige Diskrepanz zwischen meinem Wissen/meiner Mentalität und „der Gesellschaft“!

Ich danke in diesem Brief an Dich besonders auch der lieben Kinski, die für Dich all die Jahre hindurch in so hervorragender Weise (wie es sonst kein Mensch besser tun könnte) gesorgt hat (wie für mich in meinem Leben auch immer!) Wie sagte doch einst Vreni Reichlin, eine liebe Kundin von mir: „So tolle Menschen wie Mutter Beeler und’s Grittli findet man heute sonst gar nicht mehr.“

Dein Sohn Urs

News

Privat

Inserat

Inserat