Mit einer interessanten Goethe-Korrektur
Sonntag, 12. September 2004
Sehr geehrter Herr Beeler,
auch wenn Sie diese absurde Welt in Kürze verlassen möchten, kann ich Ihnen eine grosse, diese absurde Welt betreffende Enttäuschung nicht ersparen: Goethe war keineswegs der zurückgezogene Dichter, wie Sie ihn in Ihren Selbstmord-Überlegungen darstellen.
Bei allem Respekt vor Goethes dichterischer Leistung – der „deutsche Dichterfürst“ (ein von Goethe selbst umtriebig propagierter Titel) war von 1779 – 1786 bei Herzog Karl August von Weimar Kriegsminister. In diesem Amt beteiligte er sich u.a. am Verkauf unliebsamer Untertanen (Häftlinge, Obdachlose usw.) an die Engländer und an die Preussen. Sie wurden als Soldaten für fremde Kriegsdienste verschachert und mussten als solche auf fremden Schlachtfeldern ihr Leben lassen.
Nicht genug damit: Trotz der „Ehrfurcht vor allem Leben“, die Goethe als „Dichterfürst“ in seinen Schriften heuchlerisch postulierte, war er ein passionierter Jäger, wie es sich für einen der Aristokratie verpflichteten herzoglichen Beamten gehörte. Denn zu jener Zeit war die Jagd das Privileg des Adels – und Goethe war eben nicht nur ein „Dichterfürst“, sondern auch ein Fürstenverehrer: „Schriftsteller konnten sich in den allerwenigsten Fällen durch Publikationen ernähren, so dass die Intellektuellen fast sämtlich zu Fürstendienern wurden.“ („Das Goethe-Tabu“ von W. Daniel Wilson, dtv 1999).
Wenn Sie also glauben, Goethe habe sich aus der Gesellschaft zurückgezogen, um zu überleben, so täuschen Sie sich gewaltig. Im Gegenteil: Um zu überleben, war er dem damaligen gesellschaftlichen Establishment sehr zugetan und tat alles, um mit dessen Hilfe seine Reputation als „Dichterfürst“ zu mehren. Gegenüber weniger erfolgreichen Dichtern verhielt er sich ungefähr so, wie Sie es in Ihrer herrlichen Realsatire Erwin Kessler ist Dr. Geiz schildern: Als Heinrich von Kleist in äusserster finanzieller Not Goethe um Hilfe bat, wies ihm dieser schnöde die Tür.
Zu Ihrer Satire über Kessler – auch wenn darin der Charakter des Genannten sicher überzeichnet wird, was ja in einer Satire erlaubt ist – kann ich Ihnen zu Ihrem schriftstellerischen Talent nur gratulieren. Ich habe bei der Lektüre ein paarmal laut herausgelacht. Sie haben eine ausgesprochen humoristisch-satirische Ader; schade, dass diese Begabung auf literarischem oder journalistischem Gebiet nicht besser genutzt wird.
Im übrigen teile ich als ehemalige Übersetzerin mediziniwissenschaftler Fachliteratur voll und ganz Ihre Meinung, dass „über 90% der heutigen Ärzte Lakaien der Pharmaindustrie“ sind und dass die meisten Mediziner (zum Glück nicht alle) „zwar eine Wirbelsäule, aber kein Rückgrat“ besitzen. [Anmerkung der Mythen-Post: Das ist flott!]
Damit wünsche ich Ihnen entweder doch noch einen (vielleicht literarischen) Erfolg in dieser Welt oder sonst – obwohl ich selbst nicht an die Märchen des Neuen Testaments glaube – halt einen angenehmen Übergang ins wohlverdiente Paradies.
Mit freundlichen Grüssen
L. Pfaff (E-Mail: summervogel2@freesurf.ch)
Lislott Pfaff
Allmendstrasse 4
CH-4410 Liestal
Tel/Fax 41-61-921 57 58
Sonntag, 12. September 2004
Sehr geehrte Frau Pfaff
Vielen Dank für Ihre Zuschrift Es ist schön, dass es zwischendurch noch Menschen gibt, die mich verstehen bzw. zu verstehen versuchen.
Was ich in den vergangenen Wochen/Monaten erlebt habe, ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten. Absurd das Verhalten der Schwyzer Kantonalbank, die mich wegen 2,5% Schuldbriefdifferenz hochgehen liess, absurd, dass niemand geholfen hat, absurd, dass ich trotz Zwangsversteigerung und 1/4 Mio. Verlust noch „Liegenschaftsgewinnsteuer“ zahlen muss. Absurd, dass die schöne Alte Brauerei von jemandem ersteigert wurde, der für dieses historisch und architektonisch einmalige Gebäude mit 99,9% Sicherheit nicht die notwendige Sensibilität, das Wissen, überhaupt den Zugang zu diesem schönen Oldtimer besitzt. Es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit verschandelt resp. plattgemacht werden. Und das Sahnehäubchen ist mein eigenes Schicksal: im aufgezwungenen, frustrierenden und sinnlosen Exil oder bestattet im Friedhof Bifang in Schwyz. Wozu dies alles?!
Kein Wunder, dass ich sowohl beim Zubettgehen wie beim morgendlichen Aufstehen täglich an Suizid denken muss. Die Situation ist grotesk! Und selbst die massivste Einnahme von Antidepressiva auf dringendes Anraten irgend eines besorgten, systemtreuen Amtsarztes würde an dieser für das Haus wie für mich völlig unglücklichen Situation nichts ändern. Mit Symptombekämpfung kommt man nicht weiter!!!
Wie immer wieder betont: falls ich mich „verabschiede“, dann nicht aus persönlichen Gründen, sondern wegen äusseren Faktoren, die inakzeptabel geworden sind. (Sofern ich die Möglichkeit habe, mein Umfeld selber positiv zu gestalten, lässt sich der gesellschaftliche Wahnsinn jeweils immer noch irgendwie ertragen/überleben.)
Was Sie über Goethe geschrieben haben, ist mir tatsächlich neu. Ich wusste das nicht! Weder in den 5 Jahren Kollegium Schwyz, noch später beim Studium von Wilhelm Reich (der sich gerne auf Goethe bezog, z.B. auch in seinem Buch „Christusmord“) ist mir nie etwas Negatives betr. dem Schöpfer des „Faust“ aufgefallen. Nicht einmal bei Kessler lassen sich kritische Gedanken finden; er verwendet selber Goethe-Zitate (den Talmud hat er offenbar kritischer studiert).
Mit Jagd habe ich nichts am Hut – ich lehne sie ab, wie auch das Fischen. Da muss ich mein Verhältnis zu Goethe wirklich neu überdenken.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir betr. dem Dichterfürst die Augen geöffnet haben (das hat vorher noch niemand getan, nicht einmal Frau Bangel). Sie pflegen einen ausgezeichneten, klaren Stil und besitzen ein gutes Analysevermögen.
Tatsächlich möchte ich oft am liebsten Comedy machen im Stil von „Seinfeld“ oder „Frasier“. Aber die gesellschaftliche Realität treibt mich regelmässig in die Depression…
Wie eine zarte Pflanze kann ich nur am richtigen Ort gedeihen! Meine Sensibilität führt dazu, dass ich mich die grösste Zeit des Tages über Absurditäten, Ungerechtigkeiten, Unästhetik, Unehrlichkeit, Heuchelei – negatives Verhalten im Allgemeinen – unsäglich aufrege.
Sie wissen (aufgrund des Gelesenen), dass ich am liebsten bis zu meinem Tod im hohen Alter in der Alten Brauerei im gewohnten Stil weiter gelebt und gearbeitet hätte. Da dies durch die SKB, fehlende Solidarität und den neuen Käufer verunmöglicht wurde/wird, frage ich mich immerfort, ob es eine vernünftige Alternative gibt, mit der ich gut leben kann. Andernfalls ist es vermutlich wirklich gescheiter, wenn ich mich „verabschiede“. Obwohl noch unvollendete Manuskripte und Arbeiten da sind, die ich zu Ende bringen müsste.
Zufällig habe ich mich heute – kein Witz – gedanklich bereits mit meinem Nachlass beschäftigt und mir die Frage gestellt, wer den noch auf die Reihe kriegen könnte.
Nochmals vielen Dank für Ihre interessanten Gedanken! Leider findet man heutzutage viel zu wenige Menschen, die sich in Literatur, Geschichte (den Geisteswissenschaften überhaupt) auskennen.
Mit freundlichen Grüssen
Urs Beeler
PS: Was halten Sie von Schopenhauer? Hatte der auch seine Leichen im Keller? – Es gäbe noch soviel zu studieren! [Anmerkung der Mythen-Post: Je mehr einer weiss, desto stärker erkennt er auch, wie wenig er weiss.] Das Matthäus-Evangelium des Neuen Testamentes ist von der Aussage her hervorragend (vgl. auch das Buch „Christusmord“ von Wilhelm Reich). Ebenso im Alten Testament das Buch „Jesus Sirach“.
Dienstag, 14. September 2004
Sehr geehrter Herr Beeler,
danke für Ihr Mail und für das heutige Telefon.
Ich kann Ihre Verzweiflung schon verstehen und Ihre Frage: Wozu? Das hab‘ ich mich in den letzten 73 Jahren auch oft gefragt. Heue frage ich nicht mehr, ich bekomme ja doch keine Antwort und denke mir: Was dich nicht umbringt, stärkt dich. Also weiter holtertipolter… Und zwischenhinein wieder einmal eine Glückssekunde (eine Stunde wäre ja schon zuviel verlangt).
Was den ollen Goethe anbelangt, so hoffe ich, dass ich Ihnen nicht auch noch die Freude an seinen Werken genommen habe, das wäre schade. Eine Ballade wie z.B. „Der Erlkönig“ ist doch einsame Spitze; wie sich dieser Mensch in seinem Leben benommen hat, verblasst glatt daneben. Ich habe gelernt: Man muss jede/n so nehmen, wie sie/er ist… „Auch die Heuchler müssen sterben“, pflegte ein Kollege von mir zu sagen.
Mit Geisteswissenschaften oder Philosophie kenne ich mich leider gar nicht aus. Von oder über Schopenhauer habe ich ausser den Sprüchen auf Kalenderzetteln bisher nichts gelesen. Ich fische deshalb aus meiner Zitatensammlung im PC etwas von Schopenhauer (und von einigen anderen) heraus:
„Jeder liebt genau das, was ihm fehlt.“
Schopenhauer
„Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.“
Arthur Schopenhauer
„Ein mutiger Mensch ist der, der immer ein wenig mehr Mut hat, als er verzweifelt ist.“
Günther Weisenborn
„Du siehst Dinge, und du sagst ‚Warum?‘ Aber ich träume von Dingen, die es nie gegeben hat, und ich sage ‚Warum nicht?'“
George Bernard Shaw
„Das Kind ist Philosoph von Natur. Es stellt auf schlichte Weise die ‚richtigen Fragen‘, Fragen der Moral und der Politik, welche die Erwachsenen, der Staat und die Gesellschaft zu lösen pflegen, ohne diese Fragen zu stellen.“
Claude Roy
„Ein Geist, der nicht rebellieren und sich nicht empören kann, ist ein wertloser Geist.“
André Gide
„Wenn man bedenkt, wie halbherzig heute vieles getan wird, erstaunt die hohe Infarktrate.“
Ernst Reinhardt
Mit wenig Worten viel gesagt… Damit verabschiede ich mich mit besten Grüssen
Lislott Pfaff (E-Mail: summervogel2@freesurf.ch)
Lislott Pfaff
Allmendstrasse 4
CH-4410 Liestal
Tel/Fax 41-61-921 57 58